Was ist Armut?

Neben der Beschäftigung mit teilnehmenden Beobachtungen und Interviews als Vorbereitung für den Gang in die Praxis haben wir uns innerhalb der Werkstatt „Armutszeugnisse“ auch mit dem Begriff Armut beschäftigt. Wir wollten wissen, wie Armut definiert wird, ob es überhaupt eine allgemeine Armutsdefinition gibt, die allen Aspekten gerecht wird und die uns für unsere ‚Begegnung mit Armut’ die notwendigen Grundlagen gibt.

Armut betrifft alle Ebenen des Menschseins - auch das Wohnen.<br />
										Foto: Janika Hartwig
Armut betrifft alle Ebenen des Menschseins - auch das Wohnen.
Foto: Janika Hartwig

Schnell war uns klar, dass es diese eine Definition nicht gibt, dass man von mehreren Armutsdefinitionen spricht, dass man sich dem Begriff ‚Armut’ von mehreren Seiten nähern kann und muss. Man unterscheidet grundsätzlich zwei Arten der Annäherung: die eine davon definiert den Begriff der Armut mit Hilfe von Statistiken und Erhebungen. Die andere Annäherung an den Begriff Armut versucht weiter zu greifen und stellt das subjektive Armutsempfinden in den Mittelpunkt.

ABSOLUTE ARMUT

Bei der ‚statistischen’ Herangehensweise gibt es zwei zentrale Begriffe. Die Absolute Armut und die Relative Armut. Als Grundlage der Absoluten Armut gilt die Größe 1 bzw. 2 US-Dollar pro Tag und Kopf. Wer diese Summe oder weniger pro Tag zur Verfügung hat, gilt nach dieser Berechung der Weltbank als arm. Danach leben – bei Grundlage von einem US Dollars - derzeit weltweit 1,6 Milliarden Menschen in absoluter Armut. Bei Grundlage von 2 US-Dollar pro Tag und Kopf sind es schon 2,8 Milliarden Menschen, die als absolut arm bezeichnet werden können, also jeder zweite Mensch auf diesem Planeten. Die internationale Gemeinschaft bezieht sich bei ihrem Ziel, die Armut bis 2015 zu halbieren, auf diese Zahl.

RELATIVE ARMUT

Der Begriff der Relativen Armut betrachtet die Unterversorgung von Menschen bzw. Haushalten bestimmter sozialer Schichten im Verhältnis zum Wohlstand der jeweiligen Gesellschaft. Grundlage hierfür ist das durchschnittliche Einkommen der jeweiligen Bevölkerung, das so genannte Äquivalenzeinkommen. Wer weniger als 50 % des Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hat, gilt als relativ arm, bezogen auf die Gesellschaft, in der er lebt.

Laut erstem Armutsbericht der Bundesregierung sind von den knapp 40 Millionen deutschen Haushalten demnach 5,6 % als arm zu bezeichnen, über 2 Millionen Haushalte also. Dabei ist jede elfte Person als relativ arm einzustufen. Betrachtet man die überdurchschnittlich betroffenen sozialen Gruppen, so sind es vor allen Dingen Arbeitslose und deren Angehörige, Familienhaushalte mit mehreren Kindern, allein Erziehende, deren Armutsquote dreimal so hoch ist wie diejenige der Gesamtbevölkerung. Ebenfalls dreimal so hoch ist die Armutsquote der ausländischen und deutschen MigrantIinnen, die zudem häufiger und länger von Armut betroffen sind.

Die Berechnung der relativen Armut in Berlin legt als Äquivalenzeinkommen 1.213.- Euro zugrunde; wer also über weniger als 607.- Euro im Monat verfügt, gilt zurzeit als arm bezogen auf die Gesamtbevölkerung Berlins. Von dieser so definierten Armut ist in Berlin nach Aussage des aktuellen Sozialstrukturatlasses jeder sechste Mensch aus Berlin betroffen! Bei den Bezirken führt in Westberlin Kreuzberg mit 26,4 % die Armutsstatistik an, im Ostteil ist es Friedrichshain mit 14,9 %.

Einsam unter vielen?<br />
										Foto: Janika Hartwig
Einsam unter vielen?
Foto: Janika Hartwig

LEBENSLAGENANSATZ

Nach der Beschäftigung mit diesem Ansatz und dem Vergleich der Zahlen wandten wir uns einer weiterreichenden Definition von Armut zu. Es geht dabei nicht nur um Einkommensarmut, sondern vielmehr darum, welche materiellen und immateriellen Ressourcen zur Verfügung stehen, damit eine Einzelperson, eine Familie oder ein Haushalt das Leben individuell und menschenwürdig gestalten können. Demnach bezeichnet man einen Menschen als arm, der über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügt, dass er von der Lebensweise ausgeschlossen ist, die in der Gesellschaft in der sie oder er lebt, als Minimum anzusehen ist. Dieses Ausgeschlossensein zeigt sich in einer Vielzahl von Unterversorgungslagen und dem be- oder verhinderten Zugang zu verschiedenen Bereichen des Lebens.

Ausgehend von diesem so genannten Lebenslagenansatz haben wir uns die Auswirkungen auf das Leben betrachtet, stellvertretend seien hier einige genannt:

  • immer schwieriger werdender Zugang zu Bildung und damit zu einer dauerhaften Arbeit,
  • Auswirkungen auf die Familie und das soziale Umfeld,
  • Unterversorgung im Bereich des Wohnens und der Gesundheit sowie
  • eingeschränkte oder verhinderte Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben.

Mit diesem Hintergrundwissen: den Armutsstatistiken, dem Lebenslagenansatz und den Methoden der teilnehmenden Beobachtung sowie diversen Interviewtechniken sind wir nach draußen gegangen. Die Ergebnisse dieser ‚Begegnungen mit Armut’ sind die vorliegenden ‚Armutzeugnisse’.

Marc Mühlhaupt
(Werkstatt "Armutszeugnisse", SoSe 03, WiSe 03/04)

 

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