Die Escuela Popular de Artes (EPA) – Die Arbeit einer sozialen Musikschule in einem Armenviertel in Viña del Mar/ Chile
Die Escuela Popular de Artes befindet sich in der población (dt.: Armenviertel) Achupallas, einer der zahlreichen poblaciones von Viña del Mar, einer Stadt mit ca. 300.000 EinwohnerInnen an der Pazifikküste in Zentralchile.
Hier gründeten 1997 das Ehepaar Michaela Weyand (Sozialarbeiterin aus Deutschland) und ihr chilenischer Ehemann Eduardo Cisternas auf die Nachfrage einiger Jugendlichen hin zusammen mit lokalen MusikerInnen zunächst die „Escuela Popular de Música“, ein Ort, der gleichzeitig als kleine Musikschule, als Informations- und Treffpunkt insbesondere für die Kinder und Jugendlichen des Viertels gedacht war.
Die Musikschule Escuela Popular de Artes |
Im Jahre 2004 zählt die inzwischen in „Escuela Popular de Artes“ (EPA) umbenannte Schule mit über 100 SchülerInnen (im Alter zwischen 6-29 Jahren) und einem LehrerInnen- und Verwaltungsteam von ca. 20 Personen zu einem der innovativsten und erfolgreichsten Kulturzentren Chiles, das ausgehend von der musik-/kulturpädagogischen Arbeit einen möglichst ganzheitlichen Entwicklungsprozess bei den Beteiligten (Kinder, Jugendliche, Eltern, soziales Umfeld) anstoßen möchte.
Musikunterricht in der Escuela Popular de Artes |
Projekt- und Arbeitsdefinition der EPA
Die musische und künstlerische Bildungsarbeit der EPA ist auf die ganzheitliche Entwicklung der aus sozialökonomisch und kulturell benachteiligten Vierteln stammenden Kindern und Jugendlichen ausgerichtet. Mit Hilfe der künstlerischen Arbeit soll die Stärkung der persönlichen Ausdrucks- und Bewertungsfähigkeit und lokalen Identität unterstützt werden. Die Arbeit richtet sich besonders an die jungen Menschen, die keinen Zugang zu staatlichen Musikschulen, Proberäumen sowie sozialen und kulturellen Treffpunkten haben.
Durch die Entwicklung eines (in Chile) innovativen musischen Bildungskonzeptes soll der künstlerische Ausdruck, das Spielen und der Austausch der Kinder und Jugendlichen innerhalb wie außerhalb der EPA gefördert werden. Ziel ist es, die jungen Menschen im Rahmen eines entscheidenden Beitrags zum Wachstum der lokalen Kultur für ihre Umwelt zu öffnen und zu sensibilisieren und so ihre kulturelle Integration in die Gesellschaft zu fördern.
Die soziale Situation in der población Achupallas
Etwa 60 % der EinwohnerInnen (ca 180.000) Viñas leben in poblaciones, die sich wie ein Gürtel an den Hügeln um die Stadt ziehen. Achupallas war ursprünglich eine kleine Siedlung, in der ArbeiterInnen mit Hilfe der Gewerkschaften ein neues Zuhause finden sollten. In den letzten Jahren ist die Zahl der Menschen nicht zuletzt wegen der immer größeren Zahl von tomas de terreno (Landbesetzungen) stark angestiegen. Die LandbesetzerInnen fordern vom chilenischen Staat die Herausgabe des besetzten Landes oder eine Unterstützung ihrer Lebensverhältnisse; ein Verfahren, das meist Jahre dauert und nicht selten mit der gewaltsamen Räumung des besetzten Landes endet.
Aussicht auf die Berge um Viña del Mar |
In den 3 Sektoren, die sich in unmittelbarer Nähe der EPA befinden, leben laut einer Umfrage aus dem Jahre 2001 ca. 5.100 Menschen, von welchen 63,4 % unter der in Chile staatlich festgelegten absoluten Armutsgrenze von 105.000 chilenischen Pesos (ca. 136 €) leben. Die Wohnverhältnisse der meisten Menschen und Familien ist sehr prekär, ein Drittel der Haushalte hat z. B. keinen Wasseranschluss innerhalb des Wohnraumes.
Was die Kinder und Jugendlichen in Achupallas angeht, so leben ca. 1.300 von ihnen unter der offiziellen Armutsgrenze. Im Stadtteil sind ein Mangel an Bildungs-, Freizeitgestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten kultureller Art sowie eine hohe Zahl von Schulabbrüchen festzustellen. Im Falle der Jugendlichen und jungen Erwachsenen kommen noch die hohe Arbeitslosigkeit (2001: 39,55%), der Mangel an Arbeitsmöglichkeiten und Alkoholprobleme hinzu.
Achupallas, eines der Armenviertel von Viña del Mar |
Durch den Druck, dem viele Eltern und Familienoberhäupter mit der Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse der Familie und der schlechten Wohnverhältnisse im Hinblick auf Wohnraumgröße sowie Baumaterial ausgesetzt sind, treten das Interesse bzw. die Sorge für die Bildung, die Freizeit und die kulturellen Aktivitäten ihrer Kinder in den Hintergrund.
In dieser Situation sieht sich die EPA nicht nur als Bildungsstätte kultureller Art, sondern auch als Basis und Plattform für einen Prozess der Verbesserung und Veränderung der sozialen Verhältnisse in Achupallas durch die BewohnerInnen im Sinne des Empowerment-Ansatzes in der Sozialen Arbeit.
Die Musikschule
Zurzeit wird in der EPA Unterricht in den Instrumenten Klavier, Keyboard, Gesang (klassisch und populär), Gitarre (klassisch und populär), Schlagzeug, lateinamerikanische Percussion, E-Bass, E-Gitarre, Saxophon, Querflöte, Quena (Holzflöte aus der Andenregion), Panflöte, Blockflöte, Bratsche, Geige sowie Harmonielehre angeboten. Alle MusiklehrerInnen besitzen einen Hochschulabschluss als MusiklehrerIn oder InstrumentalistIn. Es werden traditionelle lateinamerikanische wie auch aus Europa stammende Instrumente gleichwertig unterrichtet. Die SchülerInnen haben die Möglichkeit im Bereich der Klassik, Jazz, Pop, Rock, Reggae, Heavy Metal oder lateinamerikanische Musik musikalische Erfahrungen zu sammeln.
Gitarrenunterricht |
Pro Monat kostet die Anmeldung 15.000 chilenische Pesos (ca. 20 €). Es gibt jedoch für die SchülerInnen je nach finanzieller Lage der Familien die Möglichkeit ein Teil- oder Vollstipendium zu bekommen. Die SchülerInnen bekommen eine Stunde Instrumental-, und eine Stunde pro Woche Harmonielehreunterricht. Sobald sie ein gewisses Niveau auf ihrem Instrument erreicht haben, können sie in einem angeleiteten Ensemble der Musikschule teilnehmen, um so ihre gelernten Fähigkeiten mit anderen auszubauen. Zurzeit gibt es an der EPA zwei Kinder-Bands (8-12 Jahre), eine lateinamerikanische Formation, eine Percussiongruppe, ein klassisches Gitarrenquartett, einen Chor, eine brasilianische Batucada, eine lateinamerikanische Rockband sowie eine Reggae-Band, die schon weit über die Grenzen der Musikschule hinaus bekannt ist.
Die Existenz dieser Ensembles ermöglicht der EPA und ihren Mitgliedern die Präsentation der eigenen Arbeit im Rahmen kultureller Aktivitäten (z. B. Konzerte, Folklorefeste, Workshops) innerhalb, aber auch außerhalb der Musikschule.
Workshop Stelzenlaufen |
In beiden Fällen geht es auch darum, die Eltern der SchülerInnen (als OrganisatorInnen von Bühnen- und Saaldekoration, Essen, Moderation und Öffentlichkeitsarbeit) sowie die BewohnerInnen der población bzw. des jeweiligen Konzertortes mit einzubeziehen. Über die Einbeziehung der verschiedenen Gruppen sollen diese befähigt werden, durch aktive Beteiligung die lokale Kultur zu fördern und mitzugestalten. Bei Konzerten in der Kommune oder der Region geht es darum, den SchülerInnen, aber auch den Eltern die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeit über die Grenzen der población hinaus bekannt zu machen. Die VertreterInnen der EPA können bei diesen Anlässen zum gegenseitigen Abbau von Vorurteilen beitragen, da sie dem Publikum ein anderes Bild der población und ihrer BewohnerInnen präsentieren, als das in Chile verbreitete negative.
Konzert in der Musikschule |
So findet seit 2003 das jährliche Jahresabschlusskonzert im Stadttheater von Viña del Mar, einem der wichtigen Konzertsäle Chiles (im Jahre 2003 mit über 500 ZuschauerInnen) statt.
Jegliche Art von Informationen, welche die EPA den jungen Menschen vermittelt (Erlernen von Instrumenten, Musikgeschichte, Musikstile, Harmonielehre, MusikerInnenbiographien, Erleben von Live-Performances, persönlicher Kontakt mit wichtigen MusikerInnen/LehrerInnen aus der Umgebung, soziale Beratung, tolerantes und gewaltfreies Miteinander usw.) hat immer zum Ziel, ihre persönlichen Potenziale zu fördern und sie bei der ganzheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit zu unterstützen. Durch die Zusammenkunft von verschiedenen Generationen (SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern) im Rahmen des Musikunterrichts und der künstlerischen Veranstaltungen auf dem Gelände der EPA können sich alle Beteiligten in der Umsetzung von Werten wie Respekt, Toleranz und gegenseitiger Unterstützung ausprobieren, um so ein bestehendes lebendiges Miteinander aufrecht zu erhalten.
Öffentliches Musizieren in der Escuela Popular de Artes |
Partizipation der SchülerInnen bei der infrastrukturellen Gestaltung der EPA
Durch die aktive Partizipation der SchülerInnen bei der infrastrukturellen Gestaltung der EPA (Renovation der 3 bestehenden Gebäude, Gestaltung und Unterhaltung des schuleigenen Gartens, Hilfe bei Büroarbeiten, Herstellung von Instrumententaschen, Kleiderhaken oder anfallende Metallarbeiten) soll bei den Beteiligten die Solidarität und das Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Musikschule verstärkt werden.
Wandmalerei |
Da das oben genannte Stipendiensystem, welches von der Kindernothilfe e. V. Duisburg finanziert wird, nur von Jugendlichen bis 18 Jahre genutzt werden kann, wurde für die Älteren ein Stipendiensystem mit „Tauschhandel“-Charakter eingeführt: Den Teil des monatlichen Beitrags, welchen sie aufgrund ihrer familiären oder persönlichen ökonomischen Situation nicht bezahlen können, „erstatten“ sie der EPA durch ihre Arbeitskraft wieder zurück. Bei der Auswahl der Arbeitsfelder wird sehr auf die Fähigkeiten und Erfahrungsbereiche der SchülerInnen geachtet, um die Person auch im Hinblick auf zukünftige Berufsziele weiter zu fördern.
Vergrößerung der EPA 2004
Demnächst wird der neu errichtete Gebäudekomplex, der mit finanzieller Unterstützung der Kindernothilfe e. V. aus Deutschland und „Chiles Kinder“ aus Luxemburg einige Straßen vom jetzigen Standort der EPA entfernt gebaut wurde, fertig sein. Mit einem größeren Gebäude wird sich auch das Angebot der EPA von „nur“ Musik auf die Bereiche Tanz, Theater sowie Bildende Kunst ausweiten.
Bau der neuen Schule |
Im September 2004 waren 8 SchülerInnen (3 Schülerinnen und 5 Schüler) sowie 3 Lehrer der EPA auf Tournee in Deutschland. Auf Einladung des Deutschen Musikrates und der Kindernothilfe e. V. Duisburg war die chilenische Gruppe u. a. mit dem Jugendorchester „Die Coolen Streicher“ aus Hamburg während 2 Wochen bei Konzerten in Hamburg, Hannover, Berlin (in der Berliner Philharmonie u. a. mit den Berliner Symphonikern), Duisburg und Köln zu sehen und zu hören. Vor insgesamt 3.000 ZuschauerInnen konnten beide Gruppe ihr Können, aber auch die Kraft der Musik als Mittel für interkulturelle Kommunikation unter Beweis stellen.
Chilenische Kinder und die 'Coolen Streicher' in der Philharmonie |
Im Oktober 2005 kam es zum Gegenbesuch des Hamburger Jugendorchester in Chile, um 14 Tage gemeinsam zu proben und eine kleine Konzertreise durch Chile zu machen sowie die Lebensrealität der SchülerInnen der EPA kennen zu lernen. Die Austauschreise war ein großer Erfolg und wurde ein einem zweisprachigen Dokumentationsfilm festgehalten (Intercambios/Begegnungen, Musik ohne Grenzen, DVD).
Julien Schwarz (Absolvent der ASFH)
Die jungen MusikerInnen |
Bei allen Fragen bezüglich der Escuela Popular de Artes:
Julien Schwarz: julien_swz@yahoo.de
Vorträge über die EPA und Infomaterialien
Die aktuelle CD der EPA („Quinta Esencia“) (12 € + Versandkosten), Infoflyer in deutsch über die Arbeit der Schule sowie die DVD (Rohling+Versandkosten) der Konzerte der chilenischen SchülerInnen in Hamburg und Berlin, sowie die DVD „Intercambios/Begegnungen, Musik ohne Grenzen“ (20 € + Versandkosten) können unter der angegebenen Mailadresse bei mir angefordert werden.
Ich stehe außerdem jederzeit für persönliche Vorträge über die EPA mit Video- und Bildmaterial und für Fragen zu einem Praktikum an der EPA zur Verfügung. Auf Wusch kann auch meine Diplomarbeit zum Thema „Empowerment in der Sozialen Kulturarbeit. Das Beispiel einer sozialen Musikschule in Chile" aus dem Jahre 2004 als PDF zugesandt werden.
Gegenbesuch in Chile |