Armut und Ungleichheit in Deutschland nimmt zu
Ein Regierungsbericht zeigt, dass die Ungleichheit in Deutschland weiter zunimmt: Besserverdienern geht es immer besser, Armen schlechter. Schuld an der Armut sind für Rot-Grün angebliche Schädigungen der Exportwirtschaft.
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Armut hat vor allem mit Arbeitslosigkeit zu tun, also ist Arbeitsmarktpolitik die beste Armutsbekämpfung. Und darum sind Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze gut, denn sie setzen nicht auf Umverteilung von Geld, sondern auf Teilhabe am Arbeitsmarkt. In diesem argumentativen Muster lässt sich grob der Regierungsbericht "Lebenslagen in Deutschland" zusammenfassen. Er kursiert seit dem Wochenende in Parteien und Redaktionen, wird aber erst Mitte Januar offiziell vorgestellt.
Unter der Bezeichnung "Armutsbericht" war Ende November bereits eine Kurzfassung durchgesickert (taz berichtete). Seither wartete das zuständige Sozialministerium unter Ulla Schmidt (SPD) auf den günstigsten Zeitpunkt für die Verbreitung der Langfassung. Das laute Platzen der Föderalismuskommission dürfte vermutlich gerade recht gekommen sein. Schließlich sind die statistischen Botschaften dieses zweiten Armutsberichts unter Kanzler Gerhard Schröder wenig angenehm für eine sozialdemokratische Regierung.
Das Armutsrisiko hat "bei den meisten Gruppen zwischen 1998 und 2003 zugenommen", heißt es in dem Bericht - im Schnitt von 12,1 auf 13,5 Prozent. Nur bei Selbstständigen und Älteren ist das Risiko unter den Durchschnitt gesunken. "Armut" und "Armutsrisiko" werden nach EU-Standards definiert. Demnach gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des alterstypischen Durchschnittsnettoeinkommens hat.
"Besonders ins Auge fällt das unverändert hohe Niveau der Quoten" bei Arbeitslosen (33,1 auf 40,9 Prozent) und Alleinerziehenden (stagnierend bei 35,4 Prozent), heißt es im Bericht. "Offensichtlich sind ihre Einkommensprobleme nicht mit Transferleistungen allein zu lösen, sondern haben ihre Ursachen in fehlenden Erwerbsmöglichkeiten." Dass sich die Lage bei Alleinerziehenden immerhin nicht verschlechtert hat, darf dabei auch mit dem Kindergeld in Verbindung gebracht werden. Dessen Erhöhung von 112 Euro auf 154 Euro hat das Armutsrisiko für Haushalte mit Kindern um 7 bis 9 Prozent reduziert.
Originell ist die Begründung für die Armut: Die Wirtschaftskrisen nach dem 11. September 2001 hätten die Exportnation Deutschland "stärker belastet" als deren Volkswirtschaften. Deutschland ist Exportweltmeister.
Armut muss nicht ewig dauern: So waren nach drei Jahren etwa zwei Drittel der "Armutsphasen" abgeschlossen. Sieben Prozent der Bevölkerung jedoch waren in West- wie Ostdeutschland "(fast) durchgehend dem Risiko der relativen Einkommensarmut ausgesetzt".
Die Löhne der berufstätigen Bevölkerung klaffen weiter auseinander und steigen kaum. "Festzustellen ist ein Trend zunehmender Streuung der Bruttoeinkommen, also zunehmender Ungleichheit", was vor allem auf Teilzeit- und Geringbeschäftigung zurückzuführen sei. Aber auch bei Vollzeitjobs zeichne sich der Trend ab.
Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen hat sich von 1998 bis 2003 nominal um 7,8 Prozent von 2.686 auf 2.895 Euro erhöht - doch abzüglich der allgemeinen Preissteigerung ist dies ein Lohnzuwachs von real bloß 1,1 Prozent. In den östlichen Bundesländern stieg das Nettoeinkommen nominal um 10,4 Prozent von 2.023 auf 2.233 Euro und damit real um 3,5 Prozent.
Gute Nachrichten gibt es für alle, die als reich gelten dürfen: Ihr Vermögen hat sich satt vermehrt - vor allem dank des Wertzuwachses beim Immobilienbesitz. Rund fünf Billionen Euro waren 2003 in privater Hand. Rechnet man das Betriebsvermögen hinzu, sind es 7,8 Billionen Euro. Der Anteil des obersten reichen Zehntels ist seit 1998 von 45 auf 47 Prozent gewachsen.
taz Nr. 7544 vom 20.12.2004, Seite 7, 124 TAZ-Bericht ULRIKE WINKELMANN