Die Kartoffel
Die Kartoffel |
Ja Herr Polizeibeamter! Nein Herr Polizeibeamter! Ich werde Ihnen alles erzählen, ganz so, wie es der Wahrheit entspricht. Es ist - Nein! Es hat vor über einem Jahr angefangen. Ich lag nachts oft wach - konnte nicht schlafen, nicht einschlafen, da - also neben den Gedanken an die Probleme des Alltags - hörte ich über mir stets diese Geräusche. Ich konnte nicht genau sagen, was es war. Es war unterschwellig; nicht unbedingt schlimm für die Nerven. Aber ich habe mich trotzdem immer gefragt: Was macht der da oben? Und - und ich konnte nicht einschlafen. Und wenn mich der Schlaf dann doch übermannte - Sie kennen das: Es kämpft sich das Geräusch hinein in die Träume. Es beherrscht einem die Träume, bis, ja, bis man erwacht. Oft also, bin ich erwacht. - von den Geräuschen erwacht.
Sie können glauben, dass es schlimmer wurde. Inzwischen hatte ich das Geräusch- Warum eigentlich Geräusch?! Es waren ja viele Geräusche, eine durchdringende Geräuschkulisse - Ich hatte also die Geräusche erkannt. Es waren Motorengeräusche. - oft Gelächter, denn der da oben hat auch Besuch. Sie fragen? Die Motorengeräusche? Ach, lieber Herr Polizeibeamter, ich werde es Ihnen erklären. Es ist ja ganz einfach zu erklären. Es ist mit unserer modernen Welt zu erklären. Nicht nur - die Motorengeräusche stammten von Rennautos -, dass es Automobile gibt, mit denen man überall hinkommt -beinahe überall hinkommt, es gibt auch Rennautos, mit denen die Menschen Geschwindigkeitsrekorde - Ja Herr Polizeibeamter! Ja! Ich komme zur Sache! Man kann sich Rennautos in die Wohnung holen, das meine ich! Ich meine Computerspiele. Das waren also die Geräusche, die Geräusche, die ich immer hörte. Und es wurde ja schlimmer.
Ich achtete jetzt stärker auf den da oben! Ich hörte auch seine Schritte! Nicht nur in der Nacht, auch am Tag! Immer! Was heißt eigentlich Schritte? Verzeihen Sie mir, er trampelte ja so, dass in meiner Wohnung die Pflanzen zittern. Das glauben Sie nicht? Bitte Herr Polizeibeamter, glauben Sie mir! Es ist ja ein Holzboden, auf dem er lief. Und seine Musik, am schlimmsten war mir seine Musik! Sie war das Schlimmste, Herr Polizeibeamter! Es gehört ja auch zur modernen Welt - nein! Nicht die Musik! Musikanlagen! Musikanlagen, mit denen man den Boden beben lassen kann! Also der Bass - den Bass hatte er immer so aufgedreht - ein ständiges Hämmern! Bum! Bum! Bum! Immer! Auch in der Nacht! Ich hatte mir sogar Wachs gekauft, Wachs für die Ohren. Ich fühlte mich stets wie die Gefährten des klugen Odysseus, mit dem Wachs in den Ohren. Aber es nützte ja nichts! Bass, das sind Vibrationen, die kämpfen sich durch das Wachs hindurch. Die werden vom ganzen Körper wahrgenommen. Auch wenn ich schlafen wollte! Auch mitten in der Nacht!
Es wurde also schlimmer! Immer schlimmer! Ich musste ja arbeiten. Ich arbeitete an einer Facharbeit - ja, ich habe noch mal zu studieren begonnen. Ich habe das Studium auch beendet, sehr erfolgreich sogar. Ich sage Ihnen, wir sind ja nicht dumm, wir sind studiert. Sie sehen es ja. Man will uns nicht, weil wir alt sind. Das ist der Grund. Ich musste also diese Arbeit schreiben. Und ständig: Bum, Bum, Bum - also ging ich hoch. Es war ein Samstag, das weiß ich ganz genau. Ich ging also hoch. Ich war sehr freundlich, und er war auch sehr freundlich. Ich habe ihm meine Situation erklärt und ihn gebeten, Rücksicht zu nehmen. Ah! War das eine Erleichterung! Sie glauben ja nicht, wie schön es für mich war, als ich meine Ruhe wiederhatte!
Es ging schon über eine Woche gut. Ich war so glücklich! Ich habe dann sogar beschlossen, mich bei dem Herrn zu bedanken. Nein, nicht persönlich, das ist nicht meine Art. Ich kaufte ihm eine Schachtel Pralinen, ja, auch teure. Auf diese Weise, verstehen Sie?, sagte ich „merci“. Ja, eine Woche - vielleicht waren es auch anderthalb, aber mehr nicht. Mehr als anderthalb Wochen waren es nicht. Es wurde wieder laut. Na ja. Ja! Ich kann es abkürzen. Ich ging wieder hoch. Immer wieder. Meine Freundlichkeit nahm ab, seine auch. Sie können sicher verstehen, Herr Polizeibeamter, dass ich - es war ja manchmal um zwei oder um drei Uhr nachts, wenn ich erwachte, von seinem Computer, von seiner Musik, dass ich, Herr Polizeibeamter, nicht jedes Mal hochgehen wollte, um den Herrn zu ermahnen. Jedes Mal hochgehen - es war ja sehr oft. Was sollte ich machen. Ich donnerte also mit der Hand gegen die Heizung. Ich schrie. Was soll man denn auch machen?
Ja! Ja! Genau das habe ich dann auch getan! Ich habe mich an den Vermieter gewandt. Aber glauben Sie? Glauben Sie, was der Vermieter getan hat? Ein Schreiben hat er verfasst. Ein einziges Schreiben; auch auf meine wiederholte Bitte hin, doch mehr zu tun. Das Schreiben hat den da oben gar nicht beeindruckt. Ganz im Gegenteil. Es wurde schlimmer. Er wusste ja, dass ich der Einzige bin, der sich über ihn beschwert. Er wusste ja, dass seine Musik nicht laut war - nicht eigentlich laut war. Sie brauchen sich nicht zu wundern, es - wie ich es schon gesagt habe, es war ja der Bass, der mich bedrängte. Bum! Bum! Bum! Sie wissen ja, ich wohne unter ihm. Und glauben Sie mir, der Bass war laut, auch wenn ihn die anderen Hausbewohner kaum vernahmen. Der Bass war schlimm! Und er drehte ihn noch stärker auf.
Ja schläft denn dieser Mann nie? Habe ich mich oft gefragt. Sie glauben es nicht. Ab 6.45 Uhr ging es - natürlich mehr oder weniger regelmäßig - los, mit seiner Musik. Und dass, obwohl das letzte „Bum“, am Abend, in der Nacht des vorhergehenden Tages, erst 2, 3, 4 Uhr verklungen war. Ja schläft denn dieser Kerl nicht? Dass habe ich mich immer gefragt.
Und glauben Sie - ich telefonierte - ich beschwerte mich noch weiter beim Vermieter. Und glauben Sie auch, es war stets sehr schwer, ihn ans Telefon zu bekommen. Man redet ja nicht mit uns. Nicht unbedingt. Wir sind ja arm. Ich beschwerte mich also auch weiterhin. Auf den Hinweis des Vermieters, ein Lärmprotokoll anzufertigen und es dem Ordnungsamt zukommen zu lassen, reagierte ich sofort. Also geschehen. Doch das Ordnungsamt reagierte nicht. Übrigens hatte ich bereits viele Lärmprotokolle angefertigt, bis ich endlich eines abschickte. Ich hatte gar eines über Weihnachten - glauben Sie, selbst am heiligen Abend, ja - Verzeihung, ich muss weinen. Verzeihung! Ich habe ja immer gezögert, es abzuschicken. Vielleicht bessert er sich ja, habe ich gedacht. Es ist doch gewöhnlich, Respekt zu haben, vor anderen Menschen. Warum hat er das nicht respektiert, mein Ruhebedürfnis? Ich wollte ihn doch nicht - ja Herr Polizeibeamter! Ja! Ich bleibe chronologisch!
Also schickte ich Lärmprotokoll 1, Lärmprotokoll 2, ich ging ja sogar persönlich dorthin, zum Ordnungsamt. Aber es passierte nichts. Man erhört uns ja nicht. Doch! Die Polizei erhört uns! Als mich die Polizei erhörte war es so: Ich saß - es war gerade Samstag - beim Frühstück. Wieder war ich erwacht, viel zu früh - Bum, Bum, Bum. Also sitze ich beim Frühstück - bum, bum, bum - ich wurde wütend! Immer wütender! Also, ich hielt es nicht mehr aus! Ich ging, nein ich rannte nach oben! Ich zitterte am ganzen Leib. Ich habe immer gezittert, wenn ich bei dem da oben geklingelt habe, wenn ich meine Sorgen, meine Wut vorgetragen habe. Der Besuch, von dem da oben, ein junger Mann, sein Sohn vielleicht, lachte mich einmal sogar aus. Er lachte mich aus, weil ich eben zitterte. Und diesmal klingelte ich nicht. Als ich gerade oben angekommen war, überkam mich ein Gefühl. Ein merkwürdiges Gefühl. Es war ein Schwindelgefühl. Es war auch energetisch. Ich habe einfach getan, was mein Körper verlangte. Er hat es so schnell verlangt. Gedanken, Denken gab es nicht. Ich holte also aus, mit dem Fuß. Und voller Wucht trat ich dagegen, gegen die Tür. Alle Wut war in diesem Tritt, alle Wut, die ich hatte. Und schon stand ich auf halber Treppe, nach unten, zu meiner Wohnung hin. Er riss die Tür auf. „Dann komm doch hoch“, schrie er. Ich kam nicht hoch, ich schlich in meine Wohnung. Ja! Ganz leise bin ich geschlichen. Er hörte mich trotzdem. Er wusste, dass ich es bin, aber ich schlich davon.
Jetzt - ich war wieder in meiner Wohnung - die Vergeltung. Jetzt machte er seine Musik so laut, dass es auch die anderen hören mussten, die anderen Hausbewohner. Gut, dachte ich mir. Gut, sie hören es auch. Hoffentlich beschwert man sich, dann bin ich nicht allein. Doch wir sind allein. Weil wir arm sind, sind wir allein. Es war so laut, die Musik. So laut der Bass. Doch ich wollte nicht mehr flüchten. Mich nicht mehr aus meiner eigenen Wohnung vertreiben lassen. Aber was sollte ich sonst tun? Die Polizei - einmal hatte ich gesagt: „Ich rufe die Polizei, wenn jetzt nicht bald Ruhe ist.“ Seine Antwort: „Mit der Polizei kannst Du mich- “ - er sagte Du - „kannst Du mich doch nicht beeindrucken.“ Na ja! Aber doch! Sie musste etwas tun, die Polizei. Sie musste ihn beeindrucken.
Ich rief also bei der Polizei an. Gut war das! Er war so verständig, der Herr! Ich erzählte ihm alles. Er machte mir Mut. Weiter solle ich Lärmprotokolle anfertigen, sie dem Vermieter, dem Ordnungsamt zukommen lassen. Ich solle nicht davor zurückschrecken - sonntags und in der Nacht - die Polizei zu rufen. Sie würden sich kümmern. Gleich ein Tag später, Sonntag, wieder: bum, bum, bum. Ich rief die Polizei. Sie kam. Und es war Ruhe. Eine Woche vielleicht. Vielleicht auch anderthalb. Dann wieder bum, bum, bum. Doch wie klug dieser Mann ist, der von da oben; wie wohl er es versteht jemanden zu reizen. Er drehte den Bass, so vermutete ich, jetzt bis zum Anschlag. Jetzt hörte er die Musik stets laut, jedoch intermittierend. Die Polizei, wenn sie kam - sie kam jetzt öfter - hörte entweder nichts oder nur sehr leise Musik. Dies gelte als ertragbar. Und ja, so gesehen ist das richtig. Ich war verzweifelt.
Nun also diese Begebenheit: Niemand, so fühlte ich mich, konnte mir mehr helfen. Ja, wegziehen. Ich erhalte ja Sozialleistungen. Es gibt da bestimmte Auflagen. Man darf nicht einfach so wegziehen. Man ist nicht frei. Und wieder, bum, bum, bum. Ich hörte den Bass, plötzlich Stille - er kommt die Treppe hinunter; ich höre es genau. Ich kenne seinen Schritt. Ich gehe in die Küche und nehme mir eine Kartoffel. Ich gehe zum Fenster, mache es auf, sehe hinaus. Ich sehe ihn. Ich sehe ihn und warte. Ich warte auf den rechten Zeitpunkt. Verstehen Sie, ich hatte keinen großen Glauben ihn zu treffen. Ich war nie ein guter Werfer. Doch Gott gibt es. Ich treffe. Ich treffe ihn und er sieht mich. Doch diesmal schleiche ich mich nicht davon; ich lasse mich nicht vertreiben. Ich starre ihn an, finster. Wutentbrannt rennt er zu mir herauf. Schon ist er da. Er klopft, nein er hämmert an meiner Tür. Ich habe Angst. Er hämmert. Mein Herz hämmert. Ich, in der Küche, greife zum Messer. Ich habe ja Angst. Alles zittert in mir. „Gehen sie weg“, rufe ich, „sonst hole ich die Polizei“. Er hämmert weiter. Und plötzlich - bum, bum, bum - dieses Gefühl. Es ist wieder da. Keine Gedanken. Kein Denken. Nur diese Wut, diese energetische Wut. Ich öffne die Tür. Ich steche zu… Jetzt urteilen Sie, Herr Polizeibeamter! Habe ich menschlich oder unmenschlich gehandelt?
Steffen Scheibner, 23. März 2007