Behinderte Frauen und ihre “Lebensqualität“ im Alter – ein persönlicher Bericht
Der/die typische BundesbürgerIn arbeitet bis zum 63. oder 65. Lebensjahr und geht dann in die so genannte Rente, d.h. er/sie bekommt vom Staat prozentual mäßig zu seiner/ihrer Arbeitszeit und Lohnhöhe einen Teil des Geldes zurück, das er/sie eingezahlt hat, „geschenkt“ als Dankeschön für ein Leben voller Mühe, voll fremdbestimmter Produktion; theoretisch ist jetzt die Zeit der in unserer sozialen Demokratie offiziell verdienten Ruhe gekommen. Vor Jahrhunderten wurde man als alter Mensch darüber hinaus noch für Weisheit und Lebenserfahrung gewürdigt, aber die Zeiten sind jetzt auch schon lange vorbei. Wenn eine junge, mehrfach behinderte, vor allem sichtbar behinderte Frau heute an das Alter denkt, hat sie keine so guten Karten.
Behindertenparkplatz |
Nehmen wir mich persönlich: über 40, studierte Anglistin, kaum nachweisbare Arbeitserfahrung („gemeinnützige zusätzliche Arbeit“ - gzA - heißt zwar so, gilt aber nicht als Arbeit – wenn ich von diesen gzA-Jobs insgesamt auch schon viel in meinem bisherigen Lebenslauf zu stehen habe, nützt mir das nichts), psychisch und sichtbar körperlich behindert.
So, wie die ArbeitgeberInnen jemanden in unserer Gesellschaft abwimmeln, wenn sie „schwer behindert“ nur hören - damit will sich keineR auseinander setzen -, kann ich mich lange bewerben, und es ist alles Zeit- und Papier- und Müheverschwendung. Da nützt einer alle Beamtenherkunft und gute Ausbildung nichts. Man hat einfach keine Chance auf dem 1. Arbeitsmarkt. Meine Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt sagte mir, dass sie es schön finde, dass ich nicht wie so viele Langzeitarbeitslose „alkoholisiert in der Ecke liege “. Also lebe ich – wie schon seit Jahren – als arme Sozialhilfeempfängerin weiter und habe (fast) keine Chance, jemals einen Cent für mein Alter in die Rentenkasse einzahlen zu können – bei allem guten Willen nicht (und schon gar nicht, Zusatzaltersversicherungen abzuschließen). Also liegen noch ca. 50 Jahre Sozialhilfe-Dasein vor mir. Mit bisher knappen 148 € Rentenanspruch, die vorne und hinten nicht reichen werden.
Arbeiten, die ich wirklich wirklich will (F. Bergmann)
Nun bin ich ja ein vielseitig interessiertes Wesen und weiß mich durchaus zu beschäftigen. Zum Beispiel arbeite ich als gzA an einer gesamtgesellschaftlich sinnvollen Stelle und erhalte als Akademikerin 1.50 € pro Arbeitsstunde (60 Std./Monat). Ich bin bei einem Bezirksbehindertenbeauftragten in Berlin beschäftigt. Wir sind für die Belange der behinderten BürgerInnen des Bezirkes da. Diesen gzA-Arbeitsplatz fülle ich mindestens im Umfang einer Halbtagsstelle aus. Das mache ich nun schon ein Jahr, aber wir erinnern uns: Das gilt nicht als Arbeit.
Darüber hinaus arbeite ich, wenn ich nicht in behinderungsbedingten Zusammenhängen unterwegs bin, an meinen Referaten, mit denen ich manchmal sogar Peanuts verdiene - gelegentlich mal 100 € für einen 3 Stunden-Vortrag (zuzüglich xx Stunden Vorbereitung, Recherchen o. Ä.). Die ganze Forschungs- und Vorbereitungszeit ist natürlich wieder meine Privatangelegenheit und gilt nicht als bezahlte Arbeitszeit.
Meiner Ansicht nach ist es gesamtgesellschaftlich relevant, über die Lebensbedingungen behinderter Frauen (auch international) zu forschen und ein Bewusstsein darüber zu schaffen, wie auch über historische Frauenpersönlichkeiten Wissen zu erarbeiten und zu verbreiten (ich bin schon lange frauenbewegt). Also: Das mache ich alles, weil es mir sehr großen Spaß macht und mich interessiert – aber das Wort Arbeit bedeutet ja „Mühsal, Anstrengung“, für Spaß wird man in unserer Gesellschaft nicht bezahlt.
Und es gibt viele Arbeiten, die mir keinen Spaß machen (würden). Zum Beispiel zeitlich total festgelegt in einer Zuverdienst-Arbeitsstelle oder Behindertenwerkstatt Briefe kleben oder Wäsche für andere Leute machen. Das ist zwar wichtig, aber nicht das, was ich als gesamtgesellschaftlich sinnvolle Arbeit zu leisten in der Lage bin, denn es würde mich nicht wirklich ausfüllen, und Monotonie und Rigidität machen mich kaputt. Zwar handelt es sich bei ca. 50 Cent Stundenlohn um akute Ausbeutung, aber immerhin erwirbt man hierbei – und nicht zu knapp – Rentenansprüche. Aber rententechnisch habe ich jedenfalls von meinen gegenwärtigen interessanteren Tätigkeiten nichts, gzA und die selbstständige Tätigkeit des Forschens sind ja nicht als Arbeit anerkannt, siehe oben.
Das wäre mal eine Innovation und eine sinnvolle Arbeit für die Bundesagentur für Arbeit, daran zu arbeiten, ehrenamtliche Arbeit insofern anzuerkennen. Aber das käme der Bundesagentur für Arbeit gerade jetzt zu Pass, wo per Lebensarbeitszeitverlängerung versucht wird, so viele Menschen wie möglich aus der Rente rauszudrücken. Da sehen die Chancen für eine (dringend anstehende!) Neudefinition des Arbeitsbegriffs nicht rosig aus. Man könnte alle Arbeiten in Zukunft „nur“ noch Tätigkeiten nennen. Ohne ehrenamtliche Arbeit wäre unsere Gesellschaft schon längst viel unfreundlicher, als sie jetzt schon ist. Das haben sogar PolitikerInnen vor einiger Zeit bereits erkannt, aber mehr als nominelle Anerkennung ist nicht dabei herausgekommen, schon gar keine materielle.
Oder ein Mann?
Mir bleibt also nur der klassische Weg für ein materiell gesichertes Alter: Die Ehe, und dass ich nun doch wieder alle meine Lebenskraft in „ihn“, in Beziehungsarbeit stecke („Wo er sich niederlässt, da vergeht der Zauber.“ Rilke). Habe ich mich dafür emanzipiert gemacht, dass ich diesen Weg beschreiten soll? Und wie lange kann/darf ich noch warten, bis ich den Schritt, (einen Großteil) meine(r) Freiheit aufzugeben, gehe: Noch bin ich eine hübsche junge Frau, aber wie lange noch? Und: Wer nimmt eine sichtbar behinderte Frau an seine Seite, setzt sich mutig über diesen Stein des Anstoßes (jetzt oder später) hinweg? Oh, und dann heiratet man doch eigentlich aus Liebe heutzutage, wir waren doch historisch schon so weit. Aber hat das nicht mit Liebe zu tun, wenn ein Mann qua Heirat eine Frau vor der Altersarmut rettet? Kann, muss nicht. Außerdem kann frau Pech haben, und der Mann, in den sie verliebt ist, ist auch noch Sozialhilfeempfänger.
Und noch ein anderer Aspekt für die Aussichten im Alter: Europäische Frauen leben im Durchschnitt sechs Jahre länger als die Männer, aber diese extra Jahre werden oft in schlechter gesundheitlicher Verfassung verbracht. Noch bin ich zwar mit einem Rollator eingeschränkt mobil, aber wie mobil werde ich im Alter sein, wenn dann noch Schmerzen und andere altersbedingte Behinderungen hinzukommen und zudem der Telebus in Berlin abgebaut bzw. für SozialhilfeempfängerInnen nicht mehr finanzierbar ist? Meine Großmutter ist immerhin schon 94 Jahre alt geworden, und dass Arme im Durchschnitt sieben Jahre kürzer leben, ist bei diesen familiären Aussichten nicht wirklich kurz genug.
Politische Aussichten und Möglichkeiten
Von dieser sehr persönlichen Situationsbeschreibung möchte ich das Thema auf eine politische bzw. soziale Veränderung hin zuspitzen. Der Staat organisiert den stummen Zwang der Verhältnisse. Man kann auf jeden Fall schimpfen, laut schimpfen und insgeheim hoffen, mal ein großes Los zu ziehen. Daneben kann man diese Frage in den Medien stärker öffentlich machen, z. B. in der Berliner Behindertenzeitung (BBZ, c/o BBV, Jägerstr. 63D, 10117 Berlin, Tel.: 030/2043847, Fax: 20450067), in der WIR (Magazin der Fürst-Donnersmarck-Stiftung, Dalandweg 19, 12167 Berlin, Tel.: 030/76970027) oder in den bundesweiten Zeitschriften Handicap (G. Beelitz & V. Neumann GbR, Lindberghstr.18, 80939 München, Fax: 089/32210139) oder dem Paraplegiker (R. Niedworok & S. Tettenborn, Tel.: 0711-8931755, Fax: -705, email: para@medizinverlage.de)
Dann haben wir in Berlin Gremien wie den Landesbeirat für Behinderte mit Arbeitsgruppen zu diversen Themen. Seine Aufgabe besteht darin, den Landesbeauftragten für Behinderte (LfB) in allen Fragen, die die Belange von Menschen mit Behinderung berühren, zu beraten und zu unterstützen. Das Fortentwickeln von Fragestellungen und das Wirken gegen Diskriminierungen kann man auch in diversen anderen politischen Gremien versuchen; dazu muss man aber an die Reformfähigkeit unserer Gesellschaft glauben; Revolution oder Krieg wären beide zu brutale Änderungsmöglichkeiten der Verhältnisse, das wünscht sich wohl keineR. Für die Politik wäre es ein immens großes Vorhaben, Vertrauen strukturell zu verankern, d. h. von diesen ewigen arbeits- und kostenintensiven – zudem demütigenden – Bedürftigkeitsprüfungen wegzukommen (man sehe hierfür beispielhaft nach Schweden hinüber.)
Für mehr Akzeptanz und Hilfe im Alltag gibt es konkrete kleine Projekte wie den Berliner Behindertenverband (BBV, s. o.) und das Netzwerk behinderter Frauen, in denen einiges Positives zur Verbesserung des je eigenen Wohlbefindens und der je eigenen Möglichkeiten getan wird. Hier wird neben Gremien- und Beratungsarbeit auf Peer Counselling Basis die Organisation von politischen Aktionen sowie Informationspolitik über Verteiler geleistet. Zudem gibt es ein Angebot von Begegnungszentren – nun losgelöst vom BBV im Beschäftigungswerk e. V. – sowie Kurse und Seminarangebote im Netzwerk behinderter Frauen. Zumindest im Hier und Jetzt erhöht es die Lebensqualität ungemein, es sich heute in Begegnungen gut gehen zu lassen. Nicht, dass ich jetzt dazu verleiten will, dass eine im Alter nur noch von schönen Erinnerungen zehren (können) soll… Dennoch: Der Reichtum muss im Hier und Heute liegen, jeden Tag neu, mausert euch zu bewussten Hedonistinnen. Wir haben keine andere Wahl (ein schwacher Trost für die Zukunft…)
Des Weiteren geht es um eine bundesweite Reform des Rentensystems (in Holland z. B. erwerben Hausfrauen Rentenansprüche). Ab dem 1.01.2005 wird es vermutlich möglich sein, eine gleichgeschlechtliche Person zu ehelichen und deren Rente nach ihrem Ableben zu erben (noch nicht für Pensionen gültig!). Die Idee der Grundsicherung war ja mal gut, aber die reale Umsetzung ist – wie die Sozialhilfe, an der sie orientiert wurde – unter dem Niveau eines menschenwürdigen Lebens angesetzt. Es steigert die Lebensqualität ungemein, wenn das Geld in der Tasche nicht so eng bemessen ist, dass man überlegen muss, ob man sich den Kaffee an der Ecke heute leisten kann oder mal für ein paar Meter ein Taxi, wenn die Füße nicht mehr wollen oder können. Die Grundsicherung ist auch insofern erschütternd, als dass sie ein wirklich unwürdiger Dank an die Menschen (Trümmerfrauen!) ist, die nach dem Krieg unsere Republik unter großen Entbehrungen wieder aufgebaut haben. Nach dem Armutsbericht für Berlin aus dem Jahr 2002 haben heute alte Frauen eine Durchschnittsrente von nur 546 €!
Konkrete Möglichkeiten für Direktmaßnahmen
In solch einer Situation hilft auch konkret, eine behinderte (ältere) Person einfach mal einzuladen, sei es zuhause zum Kochen, im Restaurant oder im Café und direkte Solidarität zu zeigen. U.U. hilft das Nichtbehinderten auch, ihre eigene oft als bejammernswert wahrgenommene Situation zu relativieren.
Hilfreich für das Vorwärtstreiben dieses und anderer Themen wäre ebenfalls eine Spende, z. B. an die BBZ als möglichen Publikationsort (Spendenkonto: Berliner Volksbank eG, BLZ: 10090000, Konto-Nr. 7083705021).
Die angestrebten strukturellen Änderungsprozesse, die den persönlichen Veränderungen folgen müssen, dauern sehr lange. Es ist dabei nötig, in den zu entwickelnden Gesetzen die Bedürfnisse der BürgerInnen zu beachten und vor die Staatsinteressen zu stellen.
Patricia Odenthal
(Name geändert)