Leopoldplatz - eine teilnehmende Beobachtung
Der Leopoldplatz liegt mitten in Berlin- Wedding und ist mit seiner sozialen Zusammensetzung aus überwiegend Arbeitslosen, SozialhilfeempfängerInnen und seinem hohen AusländerInnenanteil einer der sozialen Brennpunkte der Stadt.
Datum: 30. April 2003
Uhrzeit: 0:50 h - 11:30 h
Ort: Leopoldplatz (Wedding), vor der alten Nazarethkirche
Als Beobachtungsort erschien uns der Marktplatz sehr geeignet, da sich dort regelmäßig "arme" Menschen aufhalten.
Zur Beobachtungszeit befanden sich am Leopoldplatz Marktstände und es herrschte reger Betrieb. Auf Grund des ökumenischen Kirchentages hatte sich eine Blaskapelle eingefunden (ca. 15 Personen), die das Marktgeschehen mit etwas Musik unterhielt.
Am Rande des Platzes, neben einem türkischen Textilstand, saßen auf drei nebeneinander stehenden Bänken insgesamt fünf Personen, von denen eine weiblich war. Diese Gruppe fiel uns auf Grund ihrer zerschlissenen Kleidung und des Alkoholkonsums am frühen Vormittag besonders auf. Von den Stufen der Kirchentreppe aus konnten wir unauffällig sowohl die Zielgruppe, die ca. 20 Meter von uns entfernt war, als auch den gesamten Platz überblicken.
Beobachtung |
subjektive Wahrnehmung |
Auf einer der Bänke im Schatten der Bäume sitzen eine weibliche und eine männliche Person dicht nebeneinander. Die Frau hat schulterlanges, dunkles Haar, trägt eine blaue Jeans, ein schwarzes T-Shirt und darüber eine beige Weste. Sie isst mit einem Plastiklöffel aus einer Plastikschale. Der Mann neben ihr ist ähnlich gekleidet und trägt an seinem Unterarm eine Tätowierung. | Beide schätzen wir auf ca. 45 Jahre. |
In seiner Hand hält er eine Bierdose, die er, immer nachdem er einen Schluck getrunken hat, wieder unter die Bank stellt. Nachdem die Frau aufgegessen hat, wirft sie ihr Plastikbesteck in einen Mülleimer und wendet sich dem Mann zu. | Es wirkt so, als wolle er seinen Alkoholkonsum verbergen. |
Sie unterhalten sich kurz, küssen sich auf den Mund. Der Mann nimmt dann aus ihrer Westentasche eine Zigarette, die er sich anzündet. | Die beiden scheinen ein Paar zu sein. |
Neben der Bank der oben genannten Personen befindet sich links und rechts eine weitere. Auf der linken Bank sitzt ein Mann, dessen rechtes Bein eingegipst ist. Hinter ihm lehnen zwei Krücken an einem Baum. In seiner linken Hand hält er eine Bierdose. Seine Kleidung besteht aus einer kurzen, grauen Hose und einem durchlöcherten weißen T-Shirt. |
Sein Alter schätzen wir auf ca. 50 Jahre. |
Auf der rechts stehenden Bank sitzen zwei weitere Männer, deren Kleidung ebenfalls zerschlissen ist. Unter ihrer Bank befinden sich zwei gefüllte Stoffbeutel. Die beiden Männer trinken Bier aus Dosen und rauchen dabei Zigaretten. Einer der beiden liest eine zerknitterte Zeitung aus dem Monat März. |
Beide sind ca. 40-45 Jahre alt. |
Zwischen den beiden Bänken und dem Textilstand spielen ein paar Kinder mit langen Papprohren. Sie springen an den Rohren hoch und werden dabei von einer Frau beobachtet. Nach ca. 2 min. steht diese auf und bringt sich in das Spiel der Kinder mit ein, indem sie ihnen vormacht, wie sie mit der Rolle hantieren können. |
Die Kinder sind ca. 4-10 Jahre alt und scheinen zu der türkischen Familie zu gehören, die den Textilstand betreibt. Die Rohre sind wahrscheinlich zum Umwickeln mit Stoff vorgesehen und dienen den Kindern nun zum Stabhochsprung. |
Als die Kapelle zu spielen beginnt, wendet sich die Frau von den Kindern ab und nähert sich den Musikern. Sie bleibt vor der Kapelle stehen und schaut einen Moment lang zu, dreht sich dann zu den Bänken um, lacht (es fehlen ihr ein paar Zähne) und imitiert den Trompetenspieler. Daraufhin lachen die Männer sie an und prosten ihr mit ihren Bierdosen zu. |
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Währenddessen erscheint ein weiterer Mann in Begleitung zweier Hunde an den Bänken und verteilt, nachdem er alle mit Handschlag begrüßt hat, Bierdosen an alle. |
Der Mann wirkt etwas jünger als die übrigen "Zielpersonen", er ist etwa 30 Jahre alt. |
Die Männer öffnen die Bierdosen, lachen, prosten sich zu und unterhalten sich z. T. auch gestikulierend. Einer der Männer sagt laut: "Ich habe es nie geschafft, Trompete zu spielen!". | Alle Beteiligten wirken gut gelaunt, weitere Gesprächsinhalte können wir aufgrund der Entfernung nicht hören. |
Vor der Kapelle haben sich derweil die türkischen Kinder versammelt. Die Frau erblickt die Kindergruppe und stellt sich zu ihnen. Die Kinder stellen sich im Halbkreis um die Frau und unterhalten sich mit ihr. Während der Unterhaltung schauen sie hin und wieder zu den Musikern. | Die Kinder scheinen die Aufmerksamkeit der Frau zu genießen und suchen das Gespräch mit ihr. |
Im Laufe der restlichen Beobachtungszeit vergrößert sich die Personenzahl an den Bänken. Jeder, der sich einer Gruppe anschließt, begrüßt alle Mitglieder mit Handschlag. |
Alle scheinen sich untereinander zu kennen. Es ist ein freundliches Miteinander. Der Handschlag wirkt wie ein Ritual, welches Gruppenzugehörigkeit symbolisiert. |
Fazit der Beobachtung:
Unsere Eindrücke bei der Beobachtung waren überwiegend positiv. Eventuell vorhandene Klischees darüber, dass kein freundliches Miteinander zwischen den Wohnungslosen (oder zumindest armen Menschen) oder eine zurückgezogene einsame Haltung einiger Betroffener herrschen würde, haben sich relativiert. Wahrscheinlich hat das Bier geholfen, die Stimmung in der Gruppe zu lockern, aber darüber hinaus schien es trotz allem Nähe und Freundschaften zu geben, die nicht allein aus gemeinsamem Alkoholkonsum entstanden, sondern grundsätzlich existent waren bzw. sind. Die Begrüßung per Handschlag verstärkte diesen Eindruck bei uns.
Auch sonderten sich die Gruppenmitglieder nicht wie zum Teil erwartet von dem restlichen Treiben auf dem Marktplatz ab, sondern gerade z. B. die beschriebene Frau nahm stark am Geschehen teil, indem sie sich z. B. zu der Musikgruppe gesellte oder den Kontakt zu den Kindern aufbaute. Die von uns beobachtete Gruppe scheint eine mehr oder weniger feste Gemeinschaft zu sein, die sich schon des längeren kennt und sich eventuell regelmäßig dort trifft. Auch wirkte es so, dass über den Tag verteilt immer wieder scheinbar bekannte Gesichter entweder nur kurz diesen Treffpunkt aufsuchen oder aber den Nachmittag dort mit dem Rest der Gruppe verbringen.
Trotz der Gemeinschaft der "Hauptgruppe", die den Mittelpunkt des Geschehens darstellte, gab es wenig abseits auch gerade eine Person, die zwar ebenfalls an diesem Platz bekannt zu sein schien, aber sich dennoch abgrenzte, sei es auf eigenen Wunsch oder durch die Gruppe bestimmt. Insofern ist nicht wirklich sicher, ob dort jeder "willkommen" und angenommen ist, oder es doch eine Form von Hierarchie gibt. Alles in allem hat die Beobachtung uns einen anderen, detaillierteren Blickwinkel eröffnet, den wir zuvor bei zufälligen alltäglichen Begegnungen so nicht gehabt haben.
Sandra Prestel
Jelka Freund
Jessica Stock
Nicole Golla
(Werkstatt "Armutszeugnisse", SoSe 03, WiSe 03/04)