Prostitution und Armut
Es fanden folgende Termine statt:
20.05.2003: 21.45 Uhr - 22.45 Uhr
23.05.2003: 00.10 Uhr - 00.50 Uhr
Durchführung
- es wird distanziert und versteckt beobachtet
- es wird in den Einrichtungen vor Ort (Bars und Cafés) in Timer, Kalender und auf Bierdeckel sowie in der Bahn aus dem Gedächtnis heraus protokolliert
- Beobachtungen werden vorerst ausschließlich schriftlich festgehalten
- besonders achten wollen wir auf:
- soziale Situation
- Handlungen/Interaktionen
- Gesprächssequenzen
- Kommunikation
ethischer Aspekt:
- die Klientel soll sich durch uns weder beobachtet noch bedrängt fühlen
- die Arbeit der Klientel soll nicht beeinträchtigt werden
- es werden keine Fotos gemacht und Interviews durchgeführt
Oranienburger Straße
- professionelle Prostitution
- stehen im Abstand von 50 - 100 m zueinander
- Touristenmeile
- uniformes bzw. einheitliches Erscheinungsbild der Prostituierten
- Prostituierte stehen direkt vor den Kneipen und den Bars
- die Kundschaft wird direkt auf der Straße von ihnen angesprochen
- Autos halten an
- Arbeit findet auch direkt am Ort statt!
- überwiegend Frauen zwischen 20 und 30 Jahren
Äußerlichkeiten:
- fast alle tragen Korsetts
- starkes Make-up
- hohe Absatzstiefel
- Hüfttaschen
- gepflegtes Äußeres
- überwiegend Jeans-Bekleidung
Kurfürstenstraße
- ganzer Gegensatz zur Oranienburger Straße
- weniger professionelle Prostituierte
- buntes individuelles Erscheinungsbild der Prostituierten
- auf den ersten Blick erkennen wir Hausfrauen, Mütter und junge Mädchen
- in fast jedem am Straßenrand stehenden Auto sitzt ein Mann (wartend?)
- die Prostituierten sind unterschiedlichen Alters
- unterhalten sich auch untereinander (im Gegensatz zur Oranienburger Straße scheint weniger Konkurrenz zu herrschen, eher freundschaftliches Verhältnis)
- Nadelkappen werden gesehen!
Äußerlichkeiten:
- teilweise geschminkt, teilweise ganz natürliches Äußeres
- keine Markenbekleidung
- keine Korsetts
- kein Schönheitsideal zu erkennen
Bahnhof Zoo
- unweit der Bahnhofsmission
- riecht nach Urin
- hier befinden sich überwiegend jüngere Männer und Jungs
Äußerlichkeiten:
- es wird viel Schwarz getragen
- wir sehen einen jungen Asiaten und einen Jungen um die 18 Jahre (sehr dünn)
Am Bahnhof Zoo fühlen sich die Leute von uns stark beobachtet und daher verlassen wir den Platz recht schnell. Noch zu beobachten ist, dass ein junger Mann den Platz mit einem älteren Mann verlässt.
Resümee
Vor unserer Beobachtung an den verschiedenen Straßenstrichen hatten wir keinerlei Vorstellung, was uns in der Kurfürstenstraße oder am Bahnhof Zoologischer Garten erwarten würde. Da sich die Oranienburger Straße an einem sehr belebten, zentralen Ort in Berlin befindet, war uns dieser Strich bekannt. Wir vermuteten, dass wir hier auch bei näherem Hinsehen nicht auf offensichtliche Armut treffen würden. Unsere Vermutung wurde bestätigt. Das oben beschriebene Erscheinungsbild der Prostituierten ließ nicht auf finanzielle Armut schließen.
Alle drei Standorte haben völlig unterschiedliche Strukturen, obwohl sie das gleiche Gewerbe miteinander verbindet. Die Struktur der Oranienburger Straße wirkt professionell und durchorganisiert. In der Kurfürstenstraße hatten wir das Gefühl, dass die Frauen dort weniger in Konkurrenz zueinander stehen als in der Oranienburger Straße. Wir vermuten, ein Grund hierfür könnte sein, dass dieser Strich nicht zuhälterkontrolliert ist und dass deshalb weniger Druck auf den Frauen lastet. Obwohl die Prostitution hier (Kurfürstenstraße) eine Art Subkultur darstellt, gibt es doch Brücken in die normale Gesellschaft, denn schließlich sind die Freier Männer wie „Hinz und Kunz von Nebenan“. In der Jebenstraße haben wir das Gefühl in einer völlig anderen Welt zu sein, auch hier ist es eine Subkultur, die sich jedoch vom normalen gesellschaftlichen Leben völlig abgrenzt. Zu diesem Schluss kommen wir, da wir uns dort extrem als Fremdkörper empfanden und offensichtlich auch unerwünscht waren.
Nach dem äußeren Erscheinungsbild einiger der Prostituierten vom Kurfürstenstraßenstrich zu urteilen ist hier eher Armut festzustellen. Allerdings kann dies nicht objektiv beurteilt werden. Da unsere Beobachtung keinen Aufschluss über normale Lohnarbeitsverhältnisse oder Wohnsituationen ergaben und man nicht von einfacher Kleidung auf finanzielle Armut schließen kann ohne Anhaltspunkte auf die tatsächliche finanzielle Situation der jeweiligen Person.
Eine soziale Armut ist eigentlich bei keinem der Standorte zu beobachten gewesen, da sich eine solche ohne den Kontakt zu den beobachteten Personen auch gar nicht feststellen lässt. Soziale Armut ist meiner Ansicht nach subjektiv und kann nicht an Äußerlichkeiten festgemacht werden. Der einzige Anhaltspunkt auf soziale Armut wäre vielleicht die Gesprächssequenz der Prostituierten in der Oranienburger Straße, welche sich mit einem jungen Mann unterhielt. Sie äußerte, dass sie gerade nicht weg könne, da sie arbeiten müsse. Man könnte also hier hineininterpretieren, dass diese Frau eine Einschränkung in ihrer Freizeitgestaltung erlebt. Anstatt mit einem Freund auszugehen, muss sie anschaffen gehen. Solche Interpretationen sind natürlich subjektiver Natur und sollten nicht herangezogen werden um einen Zusammenhang zwischen Prostitution und sozialer Armut festzustellen.
Ich persönlich komme zu dem Schluss, dass weder eine finanzielle noch eine soziale Armut auf dem Straßenstrich objektiv zu beobachten ist. Um hier Armut feststellen zu können ist es notwendig persönlichen Kontakt zu den Personen aufzunehmen. Trotzdem stellt die Beobachtung für mich eine persönliche Bereicherung dar und hat mir Einblicke in Bereiche ermöglicht, die äußerst interessant und außergewöhnlich sind. Zudem hat mir die Beobachtung Zugang zu einem Feld der Sozialen Arbeit ermöglicht, der mir vorher nicht bekannt war.
Friederike Hartmann
Janine Feldmann
Norman Röhlig
(Werkstatt "Armutszeugnisse", SoSe 03, WiSe 03/04)